Feldmessen, ein Teil der Mathematik
Stellen Sie sich vor, Sie kommen zum Kölner Dom und lesen in Ihrem Reiseführer er sei 832m hoch.
Natürlich bemerken Sie, dass hier ein Druckfehler vorliegt, aber wie hoch ist der Dom denn nun tatsächlich? Schätzen wäre eine Möglichkeit, will man es aber genauer wissen, was dann?
Mit etwas Glück haben Sie Ihr Geodreieck dabei, Ihre Augen befinden sich in 1,8m Höhe und Sie finden heraus, dass Sie den höheren Domturm unter einem Winkel von 65° sehen. Haben Sie auch noch einen gleichmäßigen Schritt, so stellen Sie fest, dass Sie beim Winkelmessen genau 77m vom Turm entfernt stehen. Der Rest ist „Trigonometrie", Dreiecksvermessung.
An Waldorfschulen ist die Geometrie, die in den ersten Jahren als Formenzeichnen auftritt, sehr lange von der Algebra, die auch das Rechnen umfasst, getrennt. Dies gibt den SchülerInnen die Möglichkeit sich völlig auf die algebraischen Ausdrücke bzw. die geometrischen Objekte einzulassen, ohne gleichzeitig das jeweils andere zu berücksichtigen. Durch vielerlei Ergänzungen, wie z. B. den rhythmischen Teil im Unterricht, das Auswendiglernen des Einmaleins, das Abzählen vieler, vieler Objekte, das Malen und Zeichnen geometrischer Formen, etc., wird den SchülerInnen die Möglichkeit gegeben die Inhalte zu verinnerlichen.
In der 10. Klasse erarbeiten die SchülerInnen sich zum erstenmal neue rechnerische und neue geometrische Inhalte gleichzeitig, dies geschieht in der Trigonometrie.
Insbesondere kommen hier abstrakte Sachverhalte (wie z.B. der Sinussatz) zur praktischen Anwendung. Zum Beispiel findet sich die Berechnung von Dreiecksseiten und -winkeln in der Berechnung der Baumhöhe aus Abstand und Sehwinkel wieder. Flussbreiten können bestimmt werden, ohne dass der Fluss überquert werden muss. Zum Einen versetzt dies SchülerInnen in Erstaunen, zum Anderen entsteht hier bei vielen das Interesse genau dies auch durchzuführen.
Dies gilt auch andersherum, denn hinter den Anforderungen der äußeren Welt müssen erst die abstrakten Zusammenhänge und Ideen deutlich wer den, bevor man sie zur Lösung eines Problems nutzen kann.
Zum tieferen Verständnis und auch als neuen Zugang zur Trigonometrie und zur Mathematik gibt es in der 10. Klasse ein Feldmesspraktikum, die Feldmessfahrt. Hier finden die Inhalte der Trigonometrieepoche ihre ganz konkrete Anwendung. Die nähere Umgebung des Schullandheims wird von Gruppen aus je drei SchülerInnen vermessen. Jede Gruppe muss bestimmte Bereiche der späteren Karte mit sehr unterschiedlichen Geräten vermessen und anschließend im richtigen Maßstab zeichnen.
Aus reinen Strecken- und Winkelmessungen entsteht so gegen Ende der Fahrt eine Gemeinschaftskarte der geographischen Umgebung. Sie hängt in ihrer Qualität von allen Einzelmessungen und -zeichnungen ab und damit von allen SchülerInnen. Etwaige Messfehler und andere Unstimmigkeiten werden durch die Zeichnungen der Bereichskarten der Gruppen ganz von allein deutlich, da die SchülerInnen sehr schnell erfassen, wie die Bereiche prinzipiell aussehen und nun mit der entstandenen Karte vergleichen. Dies kann zwar manchmal sehr hart sein, doch merken die SchülerInnen, dass nicht der Lehrer die Genauigkeit fordert, sondern die Sache selbst. Hier kann also die grundlegende Erfahrung gemacht werden, was sachgemäßes Handeln bedeutet.
Einige SchülerInnen kommen den Sachanforderungen in ganz besonderem Maße nach, so dass daraus Ergebnisse entstehen, die sich durchaus mit einfacheren professionellen Messungen vergleichen lassen.
Die Gesamtkarte gibt zum Schluss die Ergebnisse aller SchülerInnen wieder, mit allen Schwächen und Stärken. Die Gestaltung der Karte in ihrer besonderen Darstellung obliegt der Klasse unter Führung einer kleinen Gruppe Freiwilliger.
Die fertige Karte am Ende der Fahrt zu sehen ist jedesmal auf's Neue ein gelungener und schöner Abschluss. (Auch wenn die allerletzten Striche vielleicht erst in Bremen, direkt vor dem von SchülerInnen gestalteten Elternabend auf die Karte gebracht wurden.)
Und jetzt fragen Sie doch mal die Zehntklässler, wie man aus den oben gemachten Angaben die Höhe des Kölner Doms berechnet. Warum ist es dabei eigentlich wichtig zu wissen, dass die Augenhöhe beim Winkelmessen 1,8m betrug? Und wenn Sie die Höhe des Kölner Doms noch genauer wissen wollen, dann benötigen Sie genauere Messgeräte oder einen anderen Reiseführer.
Sönke Mittwollen