Sylvia Klingler, Musiklehrerin
Denkort Bunker Valtentin
Aus der Frage nach dem Inhalt des Chorkonzertes 2017 entwickelte sich zum ersten Mal ein fächerübergreifendes Projekt, das von mehreren Kollegen getragen wurde. Die durch die Französischkollegin Julia Pfeiffer sorgsam zusammengestellten und mit Schülern übersetzten Auszüge der Erinnerungen von André Migdal und Raymont Portefaix mit Musik zu verbinden war eine besondere Herausforderung. Es schien als könne keine aus anderen Kontexten entstandene Musik dem entsprechen, was uns da erzählt wurde. Eine Verbundenheit, Interpretation und eigene künstlerische Aussage durch Improvisationen zu schaffen war ein in der Form bisher nicht eingeschlagener, aber passender Weg. Mich hat diese Arbeit besonders bewegt, weil die Schüler sich mit ihren Improvisationen in die Schicksale hineingedacht und sehr fein nachempfunden haben. Die Auswahl von Musik und Texten wurde zu einem Ringen. Die Schicksale von Betroffen machten mich sprachlos, aber sie selber fanden Worte ohne Anklage voller Kraft, Zuversicht, Tapferkeit. Es kristallisierte sich unter anderem die Frage nach Gott heraus. Wo war Gott? Demgegenüber stand das Gedicht von Nelly Sachs als eine Brücke zu uns heute mit der Frage nach unserer Wachsamkeit, Sensibilität und Verantwortung. Dass wir mit unseren von Herzen kommenden Klängen aufmerksam machen und der grausamen Energie etwas entgegenstellen konnten, war unser Anliegen und wurde durch die positive Rückmeldungen aus dem Publikum belohnt. Ob durch Improvisationen, Textlesungen, Auf-und Abbau, hervorragende solistische Auftritte oder im Chor; die Schülerinnen und Schüler haben meine volle Bewunderung für ihre Geduld und Kraft. 20 Musiker waren von unserer Idee überzeugt und haben mit großem Einsatz unser Konzert unterstützt.
Dafür danken wir allen Beteiligten sehr herzlich!
Pia König, Vera Schönfeld (11. Klasse)
»Ohr der Menschheit...«
Im Bunker
Jedes Jahr findet ein Chorprojekt der 11. Klasse statt, in diesem Jahr war unsere Klasse dran. Da wir etwas Besonderes machen wollten, haben wir uns überlegt, ein Gedenkkonzert im Bunker Valentin zu
veranstalten. Da der Bunker sehr weit weg ist und es dort immer kalt ist, haben wir lange überlegt, ob es das Richtige für uns ist. Nach weiteren Auseinandersetzungen mit dem Thema des Nationalsozialismus in Bremen-Farge machten wir uns an die Ausarbeitung eines Programmes. Als Leitfaden sollten französische Texte von ehemaligen Zwangsarbeitern im Bunker dienen, zu welchen wir mit Instrumenten improvisierten, mit dem Ziel, die Gefühle der Autoren zu verstärken und hervorzubringen. Die Musikimprovisation wurde von einer Gruppe im Musikunterricht erarbeitet. Währenddessen probte der Rest die Chorstücke. Deren Wahl trafen wir zum Teil noch sehr kurzfristig, so sind wir zum Beispiel erst bei einer Klangprobe im Bunker auf die Idee gekommen, auch »Mad World« mit ins Programm zu nehmen. Weil »Mad World« unser »Klassenlied« ist, welches wir spontan mehrstimmig singen können, wählten wir es aus, um den Klang in den riesigen Hallen zu testen. Dabei stellten wir fest, dass die Stimmung des Liedes sehr gut zur Atmosphäre des Bunkers passt, und wir nahmen es sofort in unser Programm auf.
In den Wochen vor dem Konzert beschäftigten wir uns intensiv mit den Schicksalen der Menschen, schrieben eigene Texte und versuchten, unsere Gefühle in den Liedern widerzuspiegeln. Wir begannen
zu begreifen, dass das Thema Nationalsozialismus uns heute immer noch etwas angeht und dass es ein sehr emotionales und ergreifendes Konzert werden würde. Allerdings haben wir nicht mit so starken Reaktionen gerechnet.
Als Höhepunkt des Konzertes war ursprünglich das »Agnus Dei« von Barber gedacht, doch für uns war es eher der Text »Wo ist Gott« und das anschließende Lied »Mein Gott, warum hast du mich verlassen? «. An dieser Stelle kamen einigen Leuten die Tränen, für den einen oder anderen wurde es sogar zu heftig, und sie verließen das Konzert. Vielleicht lag es an der Umgebung, vielleicht aber auch daran, dass wir das Publikum sozusagen ins kalte Wasser geworfen haben und es gezwungen wurde, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Natürlich war es nicht unser Ziel, die Leute so weit zu belasten, dass sie das Konzert verlassen müssen, dennoch wollten wir ein kleines Stück des Grauens, des Elends und der Einsamkeit ins Bewusstsein rufen, damit wir nicht vergessen. Trotz des schwierigen Themas hat uns die Ausarbeitung des Konzerts viel Spaß gemacht. Schade fanden wir allerdings, dass unsere monatelange Arbeit bereits nach zwei Aufführungen vorbei war. Wir danken
allen Mitwirkenden und hoffen, dass auch in den nächsten Jahren so tolle Projekte auf die Beine gestellt werden können.
Beate Böttgenbach, Lehrerin für Eurythmie
Eurythmie
»...würdest du ein Herz zu vergeben haben?«
Eurythmieprojekt der freiwilligen Eurythmiegruppe der 9. Klasse
Im Mai letzten Jahres kam aus Hamburg die Anfrage, mit Schülern eurythmisch das Gedicht von Nelly Sachs »Wenn die Propheten einbrächen« für eine Tagung über die Dichterin im Dezember 2016 einzustudieren und aufzuführen. Das Seminar trug den Titel »Ich habe kein Land und im Grunde auch keine Sprache« und fand statt zum 125. Geburtstag der Literatur-Nobelpreisträgerin. Frau Braun hatte es vermittelt. Die Anfrage kam von der norddeutschen Arbeitsgruppe der Sektion der Schönen Wissenschaften im Rudolf-Steiner-Haus in Hamburg.
Ich überlegte nicht lange und sagte zu, denn dies war eine besondere und schöne Herausforderung und konnte eine gute Präsentation unserer Schule nach außen über Bremens Stadtgrenzen hinaus werden. Zuerst hatte ich die Idee, dass dies für unsere 12.-Klässler ein krönender Abschluss anlässlich ihres letzten Eurythmiejahres sei. Es zeigte sich jedoch bald, dass den Schülern der 12. Klasse keine ausreichende Probenzeit bis Dezember zur Verfügung stehen würde, denn direkt nach den Sommerferien fuhren sie auf Kunstfahrt nach Italien und bereits kurz darauf begannen die Proben für das Klassenspiel. Wer könnte stattdessen Interesse an dieser Aufgabe haben? Hinzu kam, dass der Text dieses Gedichtes nach Länge und Inhalt keine leichte Kost sein würde, und erst recht vor dem Hintergrund, ihn eurythmisch qualitativ umzusetzen. Ich fragte Schülerinnen aus der 9. Klasse, die bereits zweimal am Internationalen Jugend-Eurythmiefestival in Witten teilgenommen hatten, ob sie sich eine solche Arbeit, die zusätzlich freiwillig für uns alle sein müsse – denn in der 9. Klasse gibt es bisher weder AGs noch Wahlpflichtkurse –, vorstellen könnten? Fünf von ihnen sagten sofort zu, vier kamen neu hinzu, darunter die frisch aus Spanien gekommene Austauschschülerin Elisa, die zuvor noch niemals Eurythmie gemacht hatte. Eike, Elisa, Gina, Jana, Jara, Maya, Mina-Fee, Ruth und Zoë bildeten diese freiwillige Eurythmiegruppe. Am 10. Dezember fuhren wir dann nach vielen Probestunden, auch an Samstagen, nach Hamburg und führten auf der Nelly-Sachs-Tagung »Die Propheten« unter viel Applaus und anerkennenden Worten vor einem fachkundigen Publikum auf. Zur freudigen Überraschung der Schüler*innen erhielt jede(r) ein Honorar.
Unsere zweite öffentliche Aufführung ergab sich ebenso überraschend. Wir wurden von Frau Klingler gefragt, ob wir das Gedicht bei dem Chorkonzert der Oberstufe im Bunker Valentin aufführen könnten. Gesagt, getan! Der Bunker Valentin ist die Ruine einer U-Boot-Werft der deutschen Kriegsmarine aus dem Zweiten Weltkrieg. In den Jahren 1943 bis 1945 wurden in Bremen-Farge Tausende von Zwangsarbeitern aus ganz Europa eingesetzt. Über 1300 Menschen starben dort. Es war für uns ein wirklich besonderes Erlebnis, in diesen gewaltigen Gemäuern aus dicksten
Betonwänden, feucht, kalt und kräftezehrend, mit seiner heftigen historischen Vergangenheit, Eurythmie zu machen. Es fühlte sich so an, als könnten wir diesem unsäglichen menschlichen Leid,
das in diesen Mauern geschah und dort in dieser Sphäre auch noch hängt, ein wenig Trost spenden. Gleichzeitig ruft das Gedicht zu Wachsamkeit aktuell auch in der Gegenwart auf:
»Wenn die Propheten aufständen / in der Nacht der Menschheit / wie Liebende, die das Herz des Geliebten suchen«, uns fragen würden: »Nacht der Menschheit / würdest du ein Herz zu vergeben
haben?« Ist die Nacht der Menschheit vorbei? Oder ist sie immer noch? Oder längst wieder? Haben wir, jeder einzelne von uns, mutig ein Herz zu vergeben? Zum dritten und letzten Mal werden wir »Die Propheten« dann einen Tag nach Himmelfahrt, am 26. Mai, auf dem 14. Internationalen Jugend-Eurythmiefestival 2017 in Witten aufführen.
Nelly Sachs (1891–1970)
Wenn die Propheten einbrächen
durch Türen der Nacht,
den Tierkreis der Dämonengötter
wie einen schauerlichen Blumenkranz
ums Haupt gewunden –
die Geheimnisse der stürzenden und sich hebenden
Himmel mit den Schultern wiegend –
für die längst vom Schauer Fortgezogenen –
Wenn die Propheten einbrächen
durch Türen der Nacht,
die Sternenstraßen gezogen in ihren Handflächen
golden aufleuchten lassend –
für die längst im Schlaf Versunkenen –
Wenn die Propheten einbrächen
durch Türen der Nacht
mit ihren Worten Wunden reißend
in die Felder der Gewohnheit,
ein weit Entlegenes hereinholend
für den Tagelöhner
der längst nicht mehr wartet am Abend –
Wenn die Propheten einbrächen
durch Türen der Nacht
und ein Ohr wie eine Heimat suchten –
Ohr der Menschheit
du nesselverwachsenes,
würdest du hören?
Wenn die Stimme der Propheten
auf dem Flötengebein der ermordeten Kinder
blasen würde,
die vom Märtyrerschrei verbrannten Lüfte
ausatmete –
wenn sie eine Brücke aus verendeten Greisenseufzern baute –
Ohr der Menschheit
du mit dem kleinen Lauschen beschäftigtes,
würdest du hören?
Wenn die Propheten
mit den Sturmschwingen der Ewigkeit hineinführen
wenn sie aufbrächen deinen Gehörgang mit den Worten:
Wer von euch will Krieg führen gegen ein Geheimnis
wer will den Sterntod erfinden?
Wenn die Propheten aufständen
in der Nacht der Menschheit
wie Liebende, die das Herz des Geliebten suchen,
Nacht der Menschheit
würdest du ein Herz zu vergeben haben?